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Fundraising-Kampagne auf Betterplace

 

 

Arbeit im Flüchtlingscamp Mavrovrouni (Moria) auf Lesbos

 

Schutzlos

 

Immer wieder stelle ich fest, dass ich Klient*innen begegne, bei denen ich spüre, dass ich ihretwegen hier bin. Weil die Behandlung besonders dringlich ist. Weil sie wirkt. Weil ich dadurch wirksam sein kann und es möglich ist, einen Unterschied zu machen. Weil der Mensch eine unmittelbare Verbesserung erfährt. Und: weil mich die Geschichte zutiefst berührt und betroffen macht. 
Eine junge Frau Mitte 20 aus Afghanistan, freundlich, zugewandt, stolz, sehr gepflegt und zurechtgemacht, bildschön. Zwei kleine Kinder sind mit ihr über die Türkei geflohen, wie alle hier auf Lesbos, mit dem Gummiboot bei Nacht und Nebel. Sie ist allein mit den Kindern auf der Flucht, ihr Mann von den Taliban umgebracht. So ungeschützt wurde sie mehrfach Opfer sexueller Gewalt – in Afghanistan, auf der Flucht, zuletzt im Camp selbst. Die Resilienz ist erstaunlich, die äußere Maske perfekt. Die tiefe innere Erschütterung ist erst bei der Behandlung spürbar. Die vernarbten Schnitte auf ihren Oberarmen bezeugen eine lange zerstörerische Geschichte der Emotionsregulation. Die Behandlungen sind zurzeit das Einzige, was ihr hilft, die rasenden Kopfschmerzen, Angstzustände und inneren Bilder zu vertreiben, sagt sie.
Das Schlimme ist: sie ist absolut kein Einzelfall. Heute die nächste junge Frau – mit ähnlicher Biographie. Verwitwet, mit Kindern allein auf der Flucht, ebenfalls Opfer wiederholter sexueller Gewalt, leichte Beute für Täter, die die vulnerable Lage der geflüchteten Frauen ausnutzen. Und: die die bestehenden Machtstrukturen ausnutzen, denn die Täter sind häufig Polizisten, Soldaten, Security. Menschen, deren Aufgabe es ist, den Schutz von Menschen zu garantieren.

                                                                                                                     (22. März 2023)

Das Unsagbare

Der Mann ist ein Hüne, eine eindrucksvolle, aufrechte Erscheinung. Der Körper ist durch jahrelanges Training geformt. Aber auch verhärtet, wie verpanzert, ein Schmerz, der nie aufhört.
Bei einem Attentat auf eine Moschee in Afghanistan sind viele Menschen getötet worden. Er hat geholfen, das Chaos aufzuräumen, menschliche Überreste eingesammelt. Seitdem lassen ihn die Bilder nicht mehr los. Nicht am Tag, nicht in der Nacht. Etwas sei mit seinem Kopf nicht richtig, sagt er. Ein aufbrausendes Temperament, habe er vorher schon gehabt. Er sucht Hilfe mit spürbarer Dringlichkeit. Er sorgt sich um Kontrollverlust, wenn er wütend wird, verlässt er den Container mit Frau und Kindern, um sich zu regulieren, es ist nie etwas geschehen, er kennt sich gut. Nach einer Woche energetischer Behandlungen in Kombination mit Homöopathie geht es dem Mann deutlich besser. Nach der ersten Behandlung schon hatten die Schmerzen erstmals für ein paar Stunden aufgehört. Jetzt, die Schmerzen reduziert, die Albträume haben aufgehört, dadurch ist der Schlaf erholsamer, das Nervensystem beginnt, sich zu beruhigen, der Mann ist deutlich zugewandter, nachdenklich. Er entschuldigt sich für seinen cholerischen Ausbruch einer Kollegin gegenüber vor Beginn der Behandlung.
Die Arbeit mit dem Afghanen berührt mich und macht auch mich nachdenklich. Ich arbeite gerne mit ihm, ich sehe seine Not. Und: ich sehe, dass es für viele Menschen möglicherweise schwierig ist, mit ihm zu arbeiten.
Es braucht ein Durchdringen auch der emotionalen Verpanzerung, ein Hindurchsehen durch die Schicht von Wut, Verteidigungsmechanismen, Cholerik. Ein Verstehen, dass sich die traumatischen Erfahrungen bei Männern häufig anders zeigen als bei Frauen – dass die Not aber genauso groß ist – es aber für die Helfer viel schwieriger ist, diese männlichen Klienten in ihrem inneren Schmerz zu erkennen.
Und es bringt mich zu einem weiteren Schritt. Es gibt etwas Unsagbares, ein Teil seiner Geschichte der nicht ausgesprochen werden darf. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, oder nur eine Wahrnehmung von mir, weil es ein Tabu ist, das auf viele der Männer im Camp zutrifft. Sie leiden nicht nur unter dem, was sie als Unrecht erfahren haben, sondern auch unter dem, was sie selbst getan haben. Wer als Mann aus einem von Bürgerkrieg, Chaos und Machtmissbrauch geprägten Land kommt, gerät früher oder später in die Situation, seine Familie, sein Dorf, seine ethnische Gruppe zu verteidigen. Bei vielen Männern, die ich hier kennen gelernt habe, ist es bei ihrem Stolz und Mut, ihrer Aufrichtigkeit und ihrem Selbstverständnis schwer vorstellbar, dass sie in unmittelbaren Gefahrensituationen nicht das aus ihrer Sicht Notwendige zur Verteidigung unternehmen.
Wenn sie ihre Heimat dann verlassen haben, und so lange sie dann auf der Flucht sind, erfüllen sie nach wie vor ihre Familienrolle, zu schützen, zu organisieren, zu führen. Im Camp angekommen, entfällt all dies und ich beobachte regelmäßig, dass in dieser Situation die Männer deutlich stärker zunächst kollabieren, als die Frauen. Die Vergangenheit holt sie ein in der Untätigkeit des Camps, dem Warten auf unbestimmte Zeit und der Ohnmacht, den undurchsichtigen Asylverfahren ausgeliefert zu sein. Was sie verfolgt, ist das Unrecht, das ihnen geschehen ist oder deren vielfache Zeugen sie geworden sind, aber manchmal eben auch das, was sie getan haben.
Weil es unsagbar bleibt. Weil es ein Tabu ist. Weil sie vergessen wollen. Weil sie Angst haben, etwas könnte ihr Asylverfahren gefährden. Und: aus Scham. Je länger das Unsagbare unausgesprochen bleibt, desto mehr inneren Raum nimmt ist es ein. Es frisst sich durch das Innere und macht krank an Seele und Körper. Aus meiner Sicht ist es zutiefst notwendig, diesen Männern zu helfen, ihren inneren Raum zu leeren: für sie selbst als Individuen, für ihr persönliches Umfeld, aber auch für uns alle als Kollektiv ist Heilung an dieser Stelle unabdingbar.  
                                                                                                                               März 2023

Goldene Momente

Es wird Frühling. Das Camp, dessen Geröll- und Kieslandschaft sich bei Regen innerhalb kürzester Zeit in ein Schlammloch und im Sommer in Gluthitze verwandelt, zeigt sich von seiner milden Seite. Überall blüht es, der Hang hinter dem Container ist begrünt, es blühen Kamille, Löwenzahn und vieles andere.
Zwei Jahre alt ist die kleine Sakina aus Afghanistan und begleitet ihre Mutter, die zu mir zur Behandlung kommt. Sie ist das jüngste von vier Kindern, vier weitere Kinder hat die Mutter verloren. Wie die meisten Kinder im Camp ist sie es gewöhnt, sich allein zu beschäftigen. Mit rührender Hingabe pflückt sie für ihre Mutter ein kleines Sträußchen. Kurz scheint alles um diesen kostbaren, heilen Moment und diesen kleinen, fröhlichen Menschen herum unwichtig zu werden.

So Tage im Camp

Heute ist einer der Tage, an denen wir weinen. Die Afghanin ist 75 Jahre alt, sie wirkt wie mindestens 85, greisenhaft. Sie ist gebrechlich, gebrochen. Ihr Gang ist unsicher, sie hat einen Tremor, hört schlecht, hat starke Schmerzen in Hüfte, Becken, Rippen, Handgelenk. Bei einem Sturz vor zwei Jahren hat sie sich vermutlich einige Brüche zugezogen, die mangels medizinischer Versorgung nicht untersucht wurden. Seit wenigen Wochen erst ist sie auf der Insel, bevor sie es mit ihrer Familie geschafft hat, hat sie zehn Pushbacks erlitten. Beim elften Versuch, die Insel zu erreichen, ist sie beim Ausstieg aus dem Gummiboot der Schmuggler und der hastigen Flucht in die Wälder der Insel erneut gestürzt. Seitdem bestehen die Schmerzen. Eine Woche lang hat die Familie versteckt in der nächtlichen Februarkälte in den Wäldern ausgeharrt, sich mit acht Menschen eine Decke geteilt. Sie liegt vor mir auf der Behandlungsliege, reglos, erschöpft, ein kleines Häufchen Mensch, nur Haut und Knochen. Ich kann kaum glauben, dass sie bis hierher überlebt hat. Alles an dieser Situation ist so falsch.
                                                                                                                        März 2023

Nachtrag: Die Frau ist seit einigen Wochen täglich zu uns gekommen. Neben den energetischen Behandlungen bekommt sie Massagen, Mobilisation und vor allem: menschliche „Basisversorgung“ - kräftigendes Essen, Wärme, Ansprache, Zeit außerhalb des Camps. Langsam ist das Leben in sie zurückgekehrt. Sie ist wacher, läuft besser, hat deutlich weniger Schmerzen.

Katos Trito - Friedhof der Geflüchteten

 

Das Vorhaben, einen menschenwürdigen Begräbnisort für Geflüchtete auf Lesbos zu schaffen, nimmt langsam Gestalt an. Es wird immer noch daran gearbeitet, durch die Stadtverwaltung und die öffentliche Hand Unterstützung zu bekommen, um den Friedhof zu gestalten. Seit meinem ersten Besuch dort vor zwei Jahren hat sich viel verändert: Das hohe Gras und Unkraut ist gemäht, in einem Teil des Geländes sind Steintafeln aufgestellt, eine Halle zur Herrichtung der Verstorbenen entstanden.

Wir haben eine Patientin aus Somalia heute mit hergebracht, nennen wir sie Luna. Luna ist im Oktober auf Lesbos angekommen. Auf ihrem Boot waren 20 somalische Frauen. 16 davon liegen hier in den mit Feldsteinen gekennzeichneten frischen Gräbern. Das Boot ist bei der Überfahrt bei schlechter Witterung auf einen Felsen aufgelaufen und gesunken. Die meisten Frauen konnten nicht schwimmen, Luna war stundenlang im Wasser und ist um ihr Leben geschwommen. Von den Orangen- und Zitronenbäumen aus unserem Praxisgarten habe ich Kerne gesammelt und mitgebracht. Wir pflanzen und bewässern sie in der trockenen Erde. Auf dass an diesem tristen Ort etwas Fruchtbares erwachsen und erblühen möge.
                                                                                                                         Februar 2023

Die aktuelle Situation - 21. Februar 2023

 

Woche 1

 

Seit zehn Tagen bin ich nun wieder auf Lesbos. Zur Zeit arbeiten wir in der Praxis in Mytilini, außerhalb des Camps, die Patienten werden von uns aus dem Camp für die Behandlungen abgeholt und anschließend zurückgefahren. Das Camp scheint aktuell voll belegt. Wir behandeln sehr viele schwere Fälle mit gravierenden Traumafolgestörungen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass massive Gewalterfahrungen während der Flucht noch einmal deutlich zugenommen haben. So berichten zahlreiche Patienten, die erst vor kurzem die Insel erreicht haben, von einer wiederholten Anzahl von Pushbacks (bis zu acht), die sie durch Autoritäten des Grenzschutzes erfahren haben, bevor es ihnen gelang, im Camp aufgenommen zu werden und ein Asylverfahren zu beantragen.

 

Der größte Anteil unserer Patienten kommt nach wie vor aus Afghanistan, darunter sind viele Familien mit Kindern unterschiedlichen Alters. Darüber hinaus behandeln wir viele Menschen aus afrikanischen Ländern, aus Somalia, Eritrea, Guinea, Kongo, dabei sind viele Frauen, die alleine ohne Netzwerk unterwegs sind, häufig können sie weder lesen noch schreiben, die Verständigung ist mangels Somali-Übersetzern bzw. Übersetzern anderer afrikanischer Sprachen sehr rudimentär.

 

Die Sicherheitsmaßnahmen im Camp wurden in den letzten Tagen verschärft. Minderjährige dürfen das Camp seit gestern nur noch in Begleitung der Erziehungsberechtigten verlassen. Das Fahrzeug, mit dem wir die Patienten transportieren, wird nun jeden Tag kontrolliert, der Fahrer muss sowohl die Ein- wie Ausfahrt per Unterschrift bestätigen und sich ausweisen.

 

 

Warum ich diese Arbeit mache
Ein kurzer Video-Bericht

 

Arbeit mit PTBS - November 2022
Einen jungen Afghanen behandele ich im Camp, der hier mit seiner Familie erst vor drei Wochen angekommen ist. Er kam wegen Rückenschmerzen – wie so viele Geflüchtete. Das Unsagbare des Erlebten, für dessen Dimension keine Worte zu finden sind und für das die Worte auch keinen inneren und äußeren Raum hätten – findet im Körper seinen Ausdruck.
Ich begegne hier jeden Tag Menschen mit chronischen Schmerzen: im Rücken, im Kopf, oft der ganze Körper steif, überhitzt oder unterkühlt, seelische und körperlich sehr sichtbare Spuren von Gewalt, Entzündungen der Gelenke, alte Verletzungen von Gelenken, Knochen, Bändern, Sehnen, deren Schmerz wieder aufflammt, nicht heilen will, Seele und Körper finden keine Ruhe. Schlafen unmöglich: es gilt wachsam zu sein, jeder Zeit. Das Erlebte hat sich ins körperliche und seelische System eingebrannt. Post-traumatische Belastungsstörung heißt es dann offiziell.
Der junge Mann ist auf der Flucht über das Mittelmeer mit dem Leben knapp davon gekommen. Mehrere Stunden unterkühlt im Wasser ist ihm die Kälte in die Knochen gekrochen. Der Körper ist kalt, der obere Rücken bildet eine verhärtete Wand, Schutz dem Herzraum. Schlafen, zur Ruhe kommen – unmöglich. Und dann ist da auch die Wut. Es gibt so viele Gründe für diese Wut, dass es sinnlos ist, sie aufzuzählen. Aber es braucht nur sehr wenig, um die fragile Hülle des alltäglichen Funktionsmodus ins Kippen zu bringen.
Es ist ein sehr berührender Prozess, diesen Mann auf seinem Heilungsweg zu begleiten und zu unterstützen, dass er einen Teil der in seinem System gespeicherten Erfahrungen loslassen kann und dadurch wieder in der Gegenwart präsent und handlungsfähig sein. Nach wenigen energetischen Behandlungen sind die Schmerzen deutlich zurückgegangen, der Bauchraum wieder warm. Nachdem es ihm zu Beginn nicht möglich war, auch nur für zwei Sekunden die Augen zu schließen, fand gestern eine tiefe Beruhigung des Nervensystem statt und er ist während der Behandlung eingeschlafen. Dieser Wendepunkt in der Behandlung war auch das Ergebnis einer Kombination unterschiedlicher Herangehensweisen. So ging der bioenergetischen Behandlung eine physiotherapeutische Arbeit voraus, mit Übungen zum Dehnen der verhärteten Rückenmuskulatur. Ein nonverbaler Weg, auf körperlicher Ebene Raum zu schaffen, aus der Kontraktion in die Expansion zu gehen, das Körpergedächtnis zu erinnern, dass Muskulatur für Bewegung und Lebendigkeit geschaffen ist – und dass es sicher ist, dadurch aus der verpanzerten Schutzhaltung herauszutreten. Es scheint, dass in dieser Kombinationsbehandlung ein grundlegender Schritt in Richtung eines sehr individuellen Heilungsweges für diesen speziellen Menschen auf einer tiefen, nonverbalen Ebene gegangen wurde.
Als ich ihn heute wiedersehe, ist sein Gesicht frei und er hat etwas Leuchtendes bekommen.
Die Asylsuchenden hier auf Lesbos befinden sich aufgrund ihrer sehr belastenden Lebensgeschichten und Erfahrungen häufig in extrem komplexen gesundheitlichen Situationen. Ich wünsche mir, dass mehr solche Projekte entstehen, die darauf mit komplexen, individuell abgestimmten Behandlungskonzepten reagieren. Es gibt kein Patentrezept – nur den einzelnen Menschen, den wir mit aller uns zur Verfügung stehenden Kompetenz, unsere Fürsorge und Achtsamkeit ein Stück weit auf seinem Heilungsweg begleiten.
November 2022
 

 

 

Wiedersehen

 

Earth Medicine hat inzwischen einen Container direkt im Camp. Behandelt wird momentan nur dort direkt im Camp, nicht mehr in der Praxis außerhalb in Mytilini. Heute hab ich das erste Mal im Camp Behandlungen gegeben. Es sind deutlich weniger Menschen zur Zeit in Moria untergebracht als noch im März, vorrangig aus Somalia, Nigeria, einige aus Afghanistan. Tief berührt hat mich die Begegnung mit einem jungen Mann aus Somalia, den ich im März bereits einige Male behandeln durfte. Damals konnte er nicht laufen, hatte Lähmungserscheinungen in den Beinen und Füßen, saß im Rollstuhl, war sehr schwach und abgemagert, so zart. Heute begegnet mir ein schüchterner Mann, hochaufgerichtet, er läuft, fährt Fahrrad, lernt Gitarre spielen, spricht inzwischen englisch. Erlebnisse wie diese lassen mich spüren, wie wichtig es ist, diese Arbeit zu machen. Zu sehen, wie die vereint zusammen wirkenden Kräfte Hoffnung geben können und zu so unglaublichen Fortschritten beitragen. Was für ein wunderbares Erlebnis zum ersten Tag heute im Camp.

Oktober 2022

Besuch im 2022 abgebrannten Lager Moria - Oktober 2022
Wir waren heute im alten Flüchtlingslager Moria, das im September 2020 nach einem verheerenden Brand geschlossen wurde. Wir gehen die 9 Kilometer in die Berge zu Fuß. Das Gelände liegt verlassen inmitten von Olivenhainen, Reste von Fundamenten der Gebäude sind zu sehen, die Bäume tragen die Spuren des Feuers und ragen als schwarze Mahnmale in die Luft. Die Natur beginnt sich den Ort zurückzuholen: Pflanzen wuchern in einer neuen Schicht über den stellenweise von Schuttresten und Glasscherben bedeckten Boden, eine Ziegenherde hat sich den Platz erobert und lebt in den verlassenen Ruinen.
Es finden sich Zeugnisse aus dem Leben der Menschen, die das Feuer erlebt haben: Besteck, Kleidung, ein Paar Kinderschuhe, einer davon von der Glut verschmort.
Wir versuchen uns vorzustellen, wie es gewesen muss, mit mehr als 20.000 Menschen auf diesem Gelände zu leben, mit dem "Dschungel", wie das unübersichtliche Durcheinander von Zelten und Behausungen genannt wurde, dass sich bis in die Berge hochzog. Ich erinnere mich an die alte Afghanin vom letzten Jahr, die erzählte, dass sie im Chaos des Brandes ihr Gebiss im Zelt verloren hat. Ihr Sohn kam 5 Tage lang jeden Tag zurück, um in den Überresten des abgebrannten Lagers danach zu suchen.
Als wir gehen, eine bizarre Begegnung. Am Eingang des alten Lagers treffen wir auf eine österreichische Familie, ein Ehepaar mit ihrer jugendlichen Tochter. Die Frau, stark geschminkt, mit einem mit Glitzersteinchen besetzten Cap posiert für Fotos vor dem Eingang. Sie sprechen uns an. Es stellt sich heraus, sie waren unten im neuen Camp, hatten versucht hineinzugehen, aber "leider dürfe man nicht hinein", sie hätte so gerne an die Flüchtlingskinder Süßigkeiten verteilt, um das dabei entstehende Filmmaterial für ihr Musikvideo zu benutzen. Nun müsse das alte Lager reichen. Angesichts des Kontrastes dieser Aussage mit dem Ort, an dem wir uns befinden, bin ich sprachlos. Sprachlos ob dieser Empathielosigkeit und Narzissmus. Wir lehnen das Angebot, mit dem Auto mitzufahren, dankend ab.
Solche Momente lassen mich an dem Zustand der Welt zweifeln. Solche Momente, in denen sich die Kluft innerhalb des eigenen Kulturkreises als größer erweist als erahnt, dass ich mich schämen möchte, und die herzlichen Verbindungen und Begegnungen, die hier mit so vielen Geflüchteten in der Arbeit entstehen, desto mehr zu schätzen weiß.

 

Vorläufiger Abschied

Und wieder geht meine Zeit auf Lesbos zu Ende. Gestern habe ich am Meer gesessen, ein windiger Tag, das Wasser aufgewühlt. Das Meer, erscheint mit an diesem Ort in seinem wechselhaften Ausdruck, so facettenreich, zwiespältig, auf dieser Insel der Extreme. Mir ist schmerzlich bewusst, dass viele Menschen, die unfreiwillig hierher kamen, es gleichzeitig als heilsam und vernichtend erleben. Ich versuche Worte zu finden – etwas von dieser Welt hier mitzuteilen, in die ich eintauche.
Mein Herz verbindet sich an diesem Ort, in der Arbeit als Heilerin mit so vielen wunderbaren Menschen auf so vielen verschiedenen Ebenen. Vielmehr: es fühlt sich an, als würde Verbindungen auf der Seelenebene hier viel leichter und müheloser entstehen als anderswo. An diesem Ort als Heilerin arbeiten zu dürfen, ist ein Geschenk: so viel Liebe, Achtsamkeit, Dankbarkeit und Vertrauen fließen zu mir zurück, dass ich mich voller Lebensintensität fühle und zutiefst dankbar für die Fügungen des Lebens, die mich mit diesem Ort und diesen Menschen zusammenführen.
Die Fortschritte der Heilungsprozesse, die meist aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Ansätze heraus entstehen, sind faszinierend in ihrem Tempo zu beobachten. Es ist wunderschön zu erleben, wie Menschen, die ich vor vier Monaten noch von viel Leid gezeichnet erlebte, erstarkt sind, ihre Fühler ausstrecken, wieder neu ins Leben hinein.
Dies Mal habe ich überwiegend, meist sehr junge, Männer behandelt: aus Somalia, Palästina, Afghanistan. Ihr Mut und ihr Vertrauen, ihr Stolz und ihre Zartheit, die sie sich durch ihre oft grausamen Lebenserfahrungen bewahrt haben, hat mich zutiefst berührt. Ich danke den Männern für ihr Vertrauen, sich auf die für sie so ungewohnte Situationen während der Heilbehandlungen einzulassen. Und dann die Frauen - die starken, warmherzigen, liebevollen Frauen, mit ihrem Hunger nach Lebenslust, lachen, tanzen, Musik, Freiheit – Leben.
Was für großartige Arbeit Fabioladurchgängig hier leistet, widrigen, ständig wechselnden äußeren Bedingungen trotzend, ist beeindruckend. Ein so starkes Team in changierender Zusammensetzung - es ist eine Freude mit Euch zu arbeiten. Earth Medicine wächst und gedeiht – möge dieser Ort der Heilung weiterhin erblühen und von außen die Unterstützung – nicht zuletzt die materielle – erfahren, die diese so überlebensnotwendige Arbeit für viele Geflüchtete in Moria ermöglicht.
Frühjahr 2022

 

Friedhof der Geflüchteten
Mahnas ist eine junge Frau aus Afghanistan, die als auszubildende Physiotherapeutin mit mir arbeitet. Sie kam letztes Jahr mit ihrer Mutter und ihrer Cousine nach Lesbos. Vor zwei Monaten ist die Mutter sehr plötzlich verstorben. Ich habe mit ihr den Friedhof besucht, auf dem ihre Mutter begraben ist und auf dem alle Geflüchteten hier beerdigt werden. Es ist einer der trostlosesten Orte, an denen ich je gewesen bin. Der Ort liegt mitten im Nirgendwo, ohne Auto und Ortskenntnisse nicht zu erreichen. Ein privates Grundstück, verpachtet an eine Gemeinde. Wir betreten das Gelände durch ein Loch im Drahtzaun. Es sind sehr viele Gräber, die bei genauerem Hinschauen zu entdecken sind, erkennbar an einzelnen Steinen. Die Gräber anonym, von trockenem Gras überwuchert, dazwischen Haufen von Plastik. Mahnas hat alles in Bewegung gesetzt, um ihrer Mutter an diesem trostlosen Ort eine würdige Grabstätte zu setzen.
Immer mehr Menschen setzen sich dafür ein, dass dieser Ort offiziell anerkannt, zugänglich gemacht und zu einem Mahnmal erklärt wird.
2021

 

Ein Bericht der taz anlässlich des Jahrestages des Brands von Moria

 

https://taz.de/Ein-Jahr-nach-Brand-in-Moria/!5795520/